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3. Verlegung von Stolpersteinen am 22. Oktober 2020 -
Dies ist der 80. Jahrestag der Deportation nach Gurs
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Familie Jossé Kleine Gailergasse 1

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Georg Jossé wurde am 14. Mai 1893 in Speyer geboren. Er wuchs im Elternhaus in der Kleinen Gailergasse 1 auf. Nach der Volks­schule absolvierte er in Frankfurt eine Ausbildung zum Konditor. 1914 wanderte er nach Brasilien aus, wahrscheinlich um dem Kriegsdienst zu entgehen. Dort heira­tete er am 30. Dezember1916 seine Frau Ida, geb. Kirsten, die am 22.Mai 1898 in Leipzig geboren wurde. Die Ehe blieb kinderlos.In Brasilien lernte das Ehepaar Jossé die Inter­nationale Bibelforscher­Vereinigung kennen– in Deutschland anfänglichauch als ›Ernste Bibelforscher‹ bekannt. Am 4. Oktober 1920 kehrten beide nach Deutschland zurück. In der Folge betrieb Georg Jossé im Nebengebäude seines Elternhauses eine Backstube. Von dort lieferte er seine Konditorerzeugnisse an die Speyerer Kundschaft aus. 1922/23 schlossen sich Ida und Georg aktiv der Speyerer Gruppe dieser christlichen Religionsgemeinschaft an und beteiligten sich an der öffentlichen Verkündigung der biblischen Botschaft. Insbesondere an Sonntagen ging man gruppenweise an einen Ort und besuchte die Menschen von Haus zu Haus. 1931 nahmen die Bibel­forscher den Namen ›Jehovas Zeugen‹ an. Gleich zu Beginn der nationalsozialistischen Machtergreifung im Frühjahr 1933 setzten die ersten Verfolgungsmaßnahmen gegen die Bibelforscher ein. Ebenso wie die Juden gehörten Jehovas Zeugen zu jenen Gruppen in Deutschland, die das NS­ Regime von Anfang an fest im Visier hatte. Dem Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen Systems waren die Verkündiger von Gottes Königreich ein Dorn im Auge. Als erste religiöse Vereinigung wurden Jehovas Zeugen mit einem Verbot belegt. Am 13. April 1933 wurden die Vereinigungen der ›Ernsten Bibelforscher‹ im bayerischen Staatsgebiet aufgelöst und verboten. Die Veranstaltung von Zusammenkünften, die Verbreitung von Druckschriften sowie jede Art der Werbung wurden unter Strafe gestellt. Unbeirrt hielten Georg und Ida Jossé weiterhin an ihrer religiösen Überzeugung fest. Auch wenn sie in der Folge im Untergrund tätig waren, wurden sie dennoch zwischen 1934 und 1943 mehrmals verhaftet und verbrachten mehrere Mona­te im Gefängnis. Im Sommer 1943 wurde Georg wegen Verteilung von aus der Schweiz eingeschmuggelten Druckschriften festgenommen. Man brachte ihn ins Gestapo ­Gefängnis nach München. Die dortigen Folterungen überlebte er nicht. Er verstarb am 22. September 1943.Ida überlebte die Gefangenschaft und war bis zu ihrem plötzlichen Tod am 14. Okto­ber 1962 als eifrige Zeugin Jehovas bekannt.

 

 

Familie Hildesheimer Postplatz 3 (damalige Gilgenstraße 1)

 

Die Hildesheimers zählen zu den ältes­ten jüdischen Familien in Speyer. Ihre Musikalität zeigt sich über 125Jahre: Marx Hildesheimer senior (gest. 1836) ist Vorsänger und Lehrer der Gemeinde, sein Sohn (gest. 1881) ruft 1849 den Synagogen ­Singverein ins Leben, Enkel Abraham (gest. 1898) gründet 1870 die Musikalienhandlung in der damaligen Gilgenstraße  1/ Ecke Roßmarktstraße. Das Anwesen hatte 1856 sein Vater erworben. Das Ge­schäft bietet sämtliche Musikinstru­mente samt Zubehör. Abraham ver­legt auch Musikstücke, gliedert eine Schreibwaren­ und Papierhandlung mit einem Ansichtskartenverlag an, zudem ist er Organist der Synagoge. Mit seiner Frau Maria (gen. Mal­wine), geb. Ris, hat er zwei Kinder: Helene (geb. 1878) und Felix (geb. 1877). Helene kann später mit ihrem zweiten Ehemann über Luxemburg nach dem damaligen Palästina flüchten; ihr Sohn aus erster Ehe stirbt 1941 im polnischen Chelmno. Felix erwirbt am 7. Juni 1904 von Mutter und Schwester deren Hausanteile. 1913 hei­ratet er Helene Simon (1891—1990); sie haben zwei Kinder: Martha (geb. 1913) und Elsbeth (geb. 1920). Mutter Malwine Hildesheimer lebt bis zu ihrem Tod am 22. Februar 1935 mit im Haus. Im April 1936 wird ihr Sohn Felix Hildes­heimer der letzte Organist der Speyerer jüdischen Gemeinde.

Am 11. Januar 1939 muss Felix Hildesheimer sein Elternhaus an die Saarpfälzische Vermögensverwertungsgesellschaft verkaufen, von dieser erwirbt am 6. Juli 1939 ein zugezogener Musikalien­händler das Anwesen. Felix Hildes­heimer wirft sich am 1.August 1939 auf der Bahnstrecke Speyer—Schif­ferstadt vor einen Zug. Seine Witwe wird 1940 nach Gurs deportiert, kann jedoch 1941 nach den USA emigrie­ren. Den beiden Töchtern war bereits die Flucht dorthin (Martha 1938) bzw. Australien (Elsbeth 1939) geglückt. Martha stirbt 2015 und hinterlässt Sohn Sidney, Elsbeth Locke verstirbt be­reits in den 1970er Jahren, ihr Sohn heißt David Sand.

 

 

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Familie Moritz Maximilianstraße 71

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Adolph Moritz kommt am 1. Mai 1893 nach Speyer. Vor seinem Umzug lebte er mit seiner Frau Eugenie, geb. Netter, in Paris. Dort wird 1880 sein Sohn Georg ge­boren. Er ist vier Jahre alt, als seine Mutter 27­jährig stirbt. Neun Jahre später zieht er mit seinem Vater nach Speyer, wo dieser 1893 Mathilde Feibelmann in zweiter Ehe heiratet.Adolph und Mathilde eröffnen in der Maximilianstraße 71 ein Geschäft für Damen­konfektion, Weiß­, Kurz­ und Modewaren. Georg arbeitet mit seinen Eltern im Geschäft und übernimmt nach dem Tod des Vaters 1925 zusammen mit seiner Stiefmutter die Leitung der Firma. Georg ist Gefreiter im Ersten Weltkrieg, man ehrt ihn mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse. Diese Auszeichnung wird am 30.Januar 1933 mit der Machtübergabe an Adolf Hitler wertlos. Am 1. April 1933 werden alle jüdischen Geschäfte boykottiert, SA ­Leute stehen vor den Läden und hindern Käufer*innen am Betreten. Drei Jahre später verkaufen Mathilde und Georg ihr Geschäft. Das „Kaufhaus Hassenpflug“ verkündet stolz in einer Anzeige in der Speyerer Zeitung vom 21. Januar 1936, dass „das Ge­schäft von Adolph Moritz, Speyer, Hauptstraße 71, käuflich übernommen und als ‚Deutsches Geschäft‘ weitergeführt wird.“Wir wissen nicht, was Mathilde und Georg erleben und was in diesem Jahr passiert. Am 2. Januar 1937 bringt sich Mathilde um, sie stirbt in der Diakonissenan­stalt. Zwei Wochen später, am 18. Januar 1937, begeht Georg 56­jährig Suizid. Beide werden auf dem Jüdischen Friedhof Speyer beerdigt. Albert Feibelmann, Mathildes Bruder, lebt mit seiner Familie ebenfalls in der Maximi­lianstraße 71, er emigriert 1936 mit seiner Frau Clara, geb. Brückmann, in die USA. Nach dem Selbstmord seiner Schwester und seines Neffen kommt Albert Feibelmann auf Besuch nach Deutschland, er stirbt unerwartet im Juli 1937 in Karlsruhe im Haus seines Schwiegersohns. Das Speyerer Anwesen Maxi­milianstraße 71 wird am 14. Dezember 1937 besitzmäßig auf Alberts Witwe Clara – als Erbin – umgeschrieben. Erst 1939 wird es verkauft.

 

 

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Familie Herz    Maximilianstraße 33

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Maximilian Herz, Sohn eines Langenfelder Viehhändlers, arbeitet sich nach sei­ner kaufmännischen Lehre zum Abtei­lungsleiter hoch. Ende 1904 eröffnet der 26­Jährige mit seiner Frau Juliane (Lina), geb. Durlacher, ein Geschäft für Weißwarenausstattung im Anwesen Maximilianstraße 24, das er später in Nr. 33 verlegt; den Kauf kann sich Max Herz erst 1927 leisten. 1913 kommt Reinhold, das einzige Kind des Ehepaars, zur Welt. Der schon früh journalistisch tätige Sohn wird in der ersten Juliwoche 1933 für etwa drei Monate zu „Schutzhaft“ verurteilt, wegen „Verbreitung von Greuelnachrichten und Arbeit für eine verbotene Organisation“, der jüdischen Jugendbewegung. Danach arbeitet er etwa dreieinhalb Jahre in Berlin und publiziert 1937 in seiner Heimatstadt u.a. die erste Chronik der neuen Speyerer Jüdischen Gemeinde. Am 1.Januar 1938 gelingt ihm die Auswanderung nach den USA. Während der Reichspogromnacht wird die Schaufensterauslage des väterlichen Geschäfts geplündert, Max Herz für vier Wochen ins KZ Dachau verschleppt. Dort erlittene Schläge führen zur Ertaubung des linken Ohrs. Am 1.August 1939 muss das Ehepaar in die Gilgenstraße 15b ziehen, ein sogenanntes Judenhaus (der frühere Besitzer war Hugo Elkan). Auch sie hatten die umfassende Vollmacht zum Verkauf ihres Anwesens unterzeichnen müssen. Alles ist für die Emigration vorbereitet, da werden Max und Lina Herz am 22.Oktober 1940 wie fast alle anderen jüdischen Speyerer nach Gurs depor­tiert, nur mit dem üblichen Handgeld und einem Koffer. Ihr Hab und Gut wird am 13. Februar 1941 öffentlich versteigert. Als die beantragten Visa endlich eintreffen, gelingt dem Ehepaar Herz vom Lager Les Milles aus über Lissabon die Flucht nach den USA. Wie ihr Sohn leben sie im nördlichsten New Yorker Stadtteil, Washington Heights, Heimat vieler Flücht­linge, vor allem aus Deutschland und Österreich. Max Herz stirbt 1960, zwei Jahre nach seiner Frau.Reinhold, jetzt Reynold, heiratet in den 1940er Jahren Margot Posnansky. Beider Kin­der Peter und Susan kommen um 1946 bzw. um 1949 zur Welt. Der Redakteur und Journalist arbeitet für jüdische Zeitungen und stirbt am 5. August 1980.

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Familie Reichenberg   Maximilianstraße 32

Adolf Aron Reichenberg wird am 5. Dezember 1867 in Bruchenbrücken bei Fried­berg/Hessen geboren. 1890 zieht er von Frankfurt/Main nach Speyer. 1895 heiratet er Friederike (genannt Ricka) Loeb in Frankenthal, die am 29. Dezem­ber 1872 geboren wurde. Das Ehepaar eröffnet am 1. Juli 1905 in der Maxi­milianstraße 32 ein Stoffgeschäft für Bettwäsche, Daunen und Tischdecken. Adolfs und Rickas Sohn Ernst wird am 14. September 1896 in Speyer geboren. Ernst übernimmt von seinem Vater die Leitung des Stoffgeschäfts und heiratet am 17. Juli 1930 in Mannheim Ellen Neuberger, 1932 kommt die gemeinsame Tochter Dorrit in Speyer zur Welt. 1939 wird die Ehe geschieden, und Ellen zieht mit ihrer Tochter nach Mannheim. Leider gibt es über die Familie Reichenberg nicht viele gesicherte Informationen. Ricka engagiert sich im Israelitischen Frauenverein, Ernst ist Rechner und Schriftführer des Synagogenchors. Seit der Machtübergabe an Adolf Hitler am 30. Januar 1933 versucht Ernst das Geschäft zu verkaufen. 1938 wird das Anwesen veräußert, nach der Deportation der Familie Reichenberg am 22.Ok­tober 1940 nach Gurs wird der Hausrat im Frühjahr 1941 öffentlich verstei­gert. Adolf Reichenberg stirbt sieben Tage nach der Deportation 73­jährig an Herzversagen in Gurs. Rickas Name erscheint am 20. Januar 1942 auf einer Liste zum Weitertransport nach Noé, dort stirbt sie 70­jährig am 14. Februar 1942. Ernst wird von Gurs nach Noé, später von Drancy mit Transport 25 am 28. August 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Ellen Reichenberg und ihre Tochter Dorrit werden am 22. Oktober 1940 von Mann­heim aus nach Gurs deportiert. Am 21. März 1941 beantragen Mutter und Tochter die Entlassung wegen der geplanten Auswanderung in die USA. Am 2.Dezember 1941 erfahren sie, dass es vor dem 15. Januar 1942 keinen Platz auf einem der Schiffe gebe. Ellen erhält die Erlaubnis, sich vom 22. Juni bis 1.Juli 1942 in Marseille aufzuhalten. Dorrit, damals neun Jahre alt, kommt dort in ein Kinderheim. Sie wird gerettet, nach Lissabon gebracht und ge­langt im Juli 1942 mit dem Schiff „Nyassa“ über Casablanca zu Verwandten in die USA; das Schiff kommt am 30. Juli 1942 in Baltimore an. Ellen wird über Drancy nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Dorrit Reichenberg­ Gomar besucht 1985 Speyer.

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